Zum Begriff

Taijiquan

(T'ai Chi Ch'üan)

Taijiquan ist die hierzulande vermutlich bekannteste Form chinesischer Kampf- und Bewegungskünste, welche unter dem Begriff wushu oder kungfu bzw. gongfu zusammengefasst werden. Heutzutage wird Taijiquan überwiegend entweder in einer oberflächlichen oder veränderten Weise zum Zwecke der gesundheitlichen Rehabilitation oder Entspannung praktiziert; oder aber als standardisierte, rein choreographische Form mit athletischen Elementen als Disziplin in sportlichen Wettkämpfen (zhidingquan). Im Gegensatz dazu ist authentisches bzw. traditionelles Taijiquan eine komplexe, anspruchsvolle und umfassende Methode, die einen entsprechend hohen Lernaufwand erfordert, und drei Bereiche bzw. "Säulen" umfasst und integriert.

1. Säule

Taijiquan stellt eine durch jahrhundertelange Erfahrung entwickelte und in der Praxis bestätigte Methode zur Gesundheitspflege dar. Auch die auf dem Hintergrund moderner sportwissenschaftlicher und (physio)therapeutischer Theorien durchgeführten Untersuchungen bestätigen seine Wirksamkeit gegen viele Beschwerden, wie sie durch mangelnde Bewegung oder einseitige körperliche Beanspruchung entstehen können.

Authentisches Taijiquan geht in seinem Anspruch auf Bewahrung und Verbesserung der sensomotorischen Leistungsfähigkeit und seelisch-geistigen Gesundheit jedoch noch weit darüber hinaus. Während die Methoden der uns bekannten Traditionellen Chinesische Medizin (TCM) und des im Westen so populären Qigong zu großen Teilen ein Konstrukt der zweiten Hälfte des 20.Jh. sind (konzipiert auf Betreiben der chinesischen kommunistischen Regierung), stellt der Bezugspunkt des traditionellen Taijiquan die yangsheng- bzw. "Lebenspflege"-Tradition dar.

Das darin überlieferte Bild von Gesundheit erstreckt sich dabei auf alle Bereiche des menschlichen Daseins (einschließlich sozialer und partnerschaftlicher Beziehungen) und erschöpft sich nicht in einer "simplen" Abwesenheit körperlicher Beschwerden.

Tatsächliche Gesundheit bedeutet vielmehr, seine Möglichkeiten für ein erfülltes und zufriedenes Leben zu erkennen, verstehen und so gut und weit als möglich zu verwirklichen. Ernsthaftes und fortgesetztes Üben des Taijiquan kann hierzu einen erheblichen Beitrag leisten.

2. Säule

Philosophie, Kunst und Selbstverwirklichung sind auf vielfältige Weise in Theorie und Praxis des Taijiquan eingewoben. Der namensgebende Terminus taiji (das "höchste Letzte, äußerste Extrem, Absolute") hat dabei eine seiner frühesten Fundstellen im Dazhuan-Kommentar zum "Buch der Wandlungen" (Yijing bzw. Zhouyi), welches in besonderer Weise das Anliegen individueller und gemeinschaftlicher Vervollkommnung repräsentiert.

Dieser Kommentar wird traditionell dem Konfuzius zugesprochen, dessen Lehren ebenso wie der während Song-Zeit herangereifte Neo-Konfuzianismus einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die chinesische Gesellschaft ausgeübt haben, und sich auch in den Theorien und Traktaten zur Faustkampfkunst wiederfinden. Bekannter und pragmatischer ist jedoch das Begriffspaar yin und yang, welches mit Bezug auf das Taijiquan u.a. als Weichheit und Härte, Gewichtung und Loslassen, Öffnen und Schließen verstanden werden kann.

Der stetige Wechsel und Ausgleich dieser einander ergänzenden Aspekte beim Üben sowohl der Solo-Formen (taolu) als auch der Partnerübungen (tuishou) spiegelt das Wirken der allumfassenden Gesetzlichkeit, des dao, wieder, von dem es heißt: "Einmal Yin, einmal Yang, das ist das Dao" (Yijing) sowie "Alle Dinge tragen das Yin und halten sich an das Yang; deren quellende Energie bringt Einklang" (Daodejing). Auf diese Weise bringt einen die Übung des Taijiquan in Übereinstimmung mit den natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Welt und der Menschen, welche so konkret erfahrbar und nachvollziehbar werden.

3. Säule

Die dritte "Säule" des authentischen Taijiquan bildet die Kampfkunst; d.h. Taijiquan als eine Methode Fertigkeiten auszubilden, um ernsthafte physische Auseinandersetzungen bestmöglich zu überstehen und für sich zu entscheiden. Oft ist es dieser Aspekt, der in heutigem Taijiquan gänzlich fehlt oder missverstanden wird. Daher sind einige erläuternde Worte an dieser Stelle unverzichtbar. Taijiquan, die "(Faust)-Kampfmethodik (quan) des Höchsten Letzten (taiji)" hatte sich in den vergangenen 300-400 Jahren (d.h. in der Zeit seit seiner "Begründung" durch Chen Wangting im 17.Jh. und während seiner weiteren Entwicklung bis etwa zur Mitte des 20.Jh.) in seiner Heimat China vor allem einen Ruf als ausgezeichnete Kampfkunst erworben.

Dabei bedient sich Taijiquan keineswegs, wie im Westen irrtümlich aufgefasst, in erster Linie oder sogar ausschließlich defensiver oder (räumlich) ausweichender Bewegungen. Je nach Ernsthaftigkeit der Situation gewinnen vielmehr explosive Schläge oder Tritte (mit der Faust, dem Ellbogen, der Schulter, der Ferse etc.), häufig auf kurze oder kürzeste Distanz und gegen verletzliche Stellen des Bewegungsapparates oder Nervensystems an Bedeutung; verbunden mit einem "Erschüttern" oder "Zerschmettern" der gesamten physischen Struktur des Gegners oder Angreifers.

Diese Fertigkeiten sind jedoch nicht auf die Schnelle zu erlernen; und ohne korrekten, spezifischen Unterricht bei kompetenten Lehrern und mit stetiger Korrektur werden sie überhaupt nicht erreicht. Aber auch wenn dieser kämpferische Aspekt für viele Taijiquan-Praktizierende in unserer Zeit nicht mehr von Bedeutung ist - sei es, weil kein oder nur ein geringes Bedürfnis nach persönlichen Fähigkeiten zum Selbstschutz empfunden wird, oder weil für diesen Aspekt andere oder schnellere Wege gesucht werden - ist er doch ein unverzichtbarer Anteil von traditionellem Taijiquan. Zu warnen ist allerdings vor einer Auffüllung fehlender authentischer Kampfaspekte des Taijiquan (welche praktisch immer auf eine unvollständige Übertragung auf Seiten des Unterrichtenden zurückzuführen sind) durch Mittel und Methoden anderer Kampfkünste wie dem Ringen oder Judo, dem Karate oder Boxen etc.

Die spezifischen kämpferischen Qualitäten des ursprünglichen Taijiquan (ebenso wie derjenigen anderer, sogenannter "innerer" chinesischer Kampfkünste wie z.B. dem Xingyiquan) sind untrennbar mit seiner Übungsmethodik (jibengong, taolu, tuishou und anderes) und den darin vermittelten Konzepten wie "Öffnen und Lösen" (fang-song), "innere Verbindung" (nei-jin), "Kraft aus dem Abhaspeln des Seidenfadens" (chansi-jin), "explosive Kraft" (fa-jin) etc. verbunden. Aber auch wenn diese Qualitäten nicht bis zu einem kampftauglichen Grad im Körper verwirklicht werden, bleiben sie dennoch maßgebliche Faktoren, um die vorher besprochenen Komponenten der Lebens- und Gesundheitspflege sowie der Meditation und Selbstverwirklichung des Taijiquan zur vollen Geltung bringen zu können. Auch aus diesem Grund muss authentisches Taijiquan immer eine Einheit der drei hier angeführten Bereiche sein; unabhängig davon, welchem davon in der persönlichen Ausrichtung und Wertschätzung der Vorzug gegeben wird.